Welche Gründe sprechen für den Einsatz der formativen Evaluation?
"(...) classroom formative assessment is a powerful lever for changing practice. Indeed, as far as we know right now, there is nothing else that has a greater effect" (Wiliam & Leahy, 2015, S. 15).
Finden im Unterricht regelmäßige Leistungsüberprüfungen statt, gelingt den Lernenden das Abrufen von Wissen grundlegend besser (Brown, Roediger & McDaniel, 2014 nach Wiliam & Leahy, 2015) und die Angst vor Leistungsüberprüfungen nimmt zunehmend ab (Agarwal, D’Antonio, Roediger, McDermott & McDaniel, 2014 nach Wiliam & Leahy, 2015).
Diesbezüglich lässt sich auch der "hypercorrection effect" anführen. Gemäß dem "hypercorrection effect" (Butterfield & Metcalfe, 2001 nach Wiliam & Leahy, 2015) lernen Schüler:innen nämlich effektiver, wenn sie falsche Antworten geben, von deren Richtigkeit sie überzeugt sind. Denn der "hypercorrection effect" hat zwei Folgen. So können sich Lernende die richtigen Antworten zum einen besser einprägen und gehen zum anderen davon aus, die richtigen Antworten schon im Vorhinein gewusst zu haben.
Grundlegend kann auch davon ausgegangen werden, dass bei Schüler:innen durch die Strategien der formativen Evaluation sowohl deren intrinsische Motivation (Black & Wiliam, 2009 nach Buholzer et al., 2023; Bürgermeister, 2014 nach Bürgermeister & Saalbach, 2018 in Bezug auf Self- und Peer-Assessment) sowie deren Anstrengungsbereitschaft (Bürgermeister, 2014 nach Bürgermeister & Saalbach, 2018 in Bezug auf Self- und Peer-Assessment) als auch deren Kompetenzerleben (Hondrich et al. 2018 nach Buholzer et al., 2023) und die Fähigkeit, selbstreguliert zu lernen (Black & Wiliam, 2009 nach Buholzer et al., 2023; Harris & Brown, 2013 nach Buholzer et al., 2023), zunehmen. Laut Choi, Nam & Lee (2001 nach Bürgermeister, 2018) wirken sich formative Feedbacks überdies positiv auf das Interesse der Lernenden aus und Ruiz-Primo & Furtak (2007 nach Bürgermeister & Saalbach, 2018) konnten den Techniken der formativen Evaluation einen lernleistungssteigernden Effekt nachweisen.
Des Weiteren belegen zahlreiche Studien zu formativer Evaluation und formativem Feedback, dass Lehrkräfte Lernprozesse umso wirksamer steuern können, desto häufiger sie die Lernstände der Lernenden feststellen und das weitere Handeln danach ausrichten (Wiliam & Leahy, 2015).
Während Weinert (2000 nach Breucker & Kuhl, 2022) und Wember (2013 nach Breucker & Kuhl, 2022) in dem Wissen der Lehrkräfte um die Lernstände der Lernenden sogar ein Qualitätskriterium für den (inklusiven) Unterricht sehen, bezeichnet Wiliam (LSI: Learning Sciences International, 2018) die formative Evaluation als Brücke zwischen Lehren und Lernen.
Buholzer et al. (2023, S. 54) kommen in ihrem Vergleich des Modells zur Beschreibung von Unterrichtsqualität von Praetorius et al. (2018) mit der formativen Evaluation zu dem Schluss, dass eine Berücksichtigung der formativen Evaluation "als bedeutsamer Beitrag zur Erhöhung der Unterrichtsqualität angesehen werden" kann. Denn das Modell von Praetorius et al. (2018) bildet lediglich die Strategien "Lernstände der Lernenden mit geeigneten Aufgabenformaten ermitteln" sowie "Lernende unterstützen einander beim Lernen" ab, die Techniken der übrigen formativen Strategien bleiben jedoch unberücksichtigt (Buholzer et al., 2023).
Auch Diebig et al. (2021, S. 205) kommen zu dem Schluss, "dass diese (die Techniken der formativen Evaluation, Anm. P. C.) die Unterrichtskultur innovativ verändern können", "sich in traditionelleren, eher lehrerzentrierten Unterrichtssettings anwenden (lassen) und (...) dort einen Schritt hin zu aktiver Beteiligung, kognitiver Aktivierung und individueller Förderung dar(stellen)". So berichten Diebig et al. (2021) von zahlreichen Forschungsprojekten zu ausgewählten Techniken der formativen Evaluation, die Lehramtsstudent:innen während ihrer Praxissemester durchführten. Im Einzelnen wurden die Becherampel-Technik (Hier klicken für mehr Informationen), die Secret-Student-Technik (Hier klicken für mehr Informationen) und die No-Hands-Up-Technik (Hier klicken für mehr Informationen) auf ihre Effektivität hin untersucht.
Während bei zwei Drittel (67 %) aller Forschungsprojekte die Becherampel-Technik und die No-Hands-Up-Technik mit positiven Effekten in Verbindung gebracht werden konnten, beeinflusste die Secret-Student-Technik den Unterricht in knapp drei Viertel (72 %) aller studentischen Projekte vorteilhaft (Diebig et al., 2021).
Die Becherampel-Technik wirkte sich in erster Linie positiv auf das Unterrichts- sowie Klassenklima, die Feedback-Kultur und die Motivation der Schüler:innen, am Unterricht teilzunehmen, aus und die No-Hands-Up-Technik ging mit größeren Lernzuwächsen und einer gesteigerten Aufmerksamkeit der Lernenden einher. Vor allem die Aufmerksamkeitsleistungen der Schülerinnen profitierten von der No-Hands-Up-Technik. Mithilfe der Secret-Student-Technik war es überdies möglich, die Häufigkeit von Unterrichtsstörungen zu verringern (Diebig et al., 2021).
Zierer (2022) bezeichnet die formative Evaluation als wirksame Methode und bezieht sich hierzu auf zwei von Hatties Meta-Analysen, die der formativen Evaluation eine große Effektstärke von d = 0.90 bestätigen.
Differenzierter betrachten hingegen Schütze et al. (2018) die formative Evaluation. Unter Bezugnahme auf ein Review neun wissenschaftlicher Studien aus den Jahren 1999 bis 2007 (Dunn & Mulvenon, 2009 nach Schütze et al., 2018) und einer auf 13 Studien aus den Jahren 1990 bis 2010 beruhenden Meta-Analyse (Kingston & Nash, 2011, 2015 nach Schütze et al., 2018) halten sie zwar grundsätzlich an den positiven Effekten der formativen Evaluation auf Schülerleistungen fest. Doch folgern Schütze et al. (2018), dass die Ausgestaltung der Schülerbeurteilung die Effektivität maßgeblich beeinflusst. Darüber hinaus wird die Einführung der formativen Evaluation als "herausfordernd und anspruchsvoll" (Schütze et al., 2018, S. 13) beschrieben, da sowohl geeignete Materialien zu erstellen sind als auch Lehrkräfte sowie Lernende in der Anwendung unterstützt werden müssen. Im Hinblick auf Schulentwicklungsprozesse wird die Notwendigkeit betont, die Einführung der formativen Evaluation als längerfristiges Projekt zu planen (Brookhart, Moss & Long, 2008 nach Schütze et al., 2018), das schrittweise (Angelo & Cross, 1993; Harlen, 2008 nach Schütze et al., 2018) anzugehen ist.
Da Hattie (nach Zierer, 2022) der formativen Evaluation eine große Effektstärke bestätigt, Bürgermeister & Saalbach (2018) einen durch Fortbildungs- und Unterstützungsangebote begleiteten verstärkten Einsatz formativer Techniken an Schulen anregen und Schütze et al. (2018) auf kritische Aspekte hinweisen, wird im Folgenden auf den Ansatz von Dylan Wiliam und Siobhán Leahy eingegangen. Denn der Ansatz von Wiliam & Leahy (2015) bezieht konsequent Lehrende, Lernende sowie die Peer-Groups mit ein, bietet Techniken sowie Tipps für den direkten Einsatz im Unterricht an und kommt zu einem Großteil ohne die Erstellung zusätzlicher Materialien aus. So soll, Wiliam & Leahy (2015, S. 137) entsprechend, das Hauptaugenmerk nicht auf dem Abwägen zwischen verschiedenen Ansätzen und Methoden liegen, sondern die Fragen nach dem "Wo" und "Wie" beantwortet werden:
"Like so much else in education, 'what works' is the wrong question because everything works somewhere and nothing works everywhere. The interesting and important question is 'under what circumstances does this work?'"